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Artikel erschienen  in   A T E M  die Zeitschrift  01/2014  der Arbeits- und Forschungsgemeinschaft für Atempädagogik und Atemtherapie e.V.



ATEM – TRAUMA – und die POLYVAGALE THEORIE
von Margit Seeling

Die neuen Forschungen der körperorientierten Traumatherapie nach Peter Levine sind ja in den letzten Jahren von einigen Kolleginnen/Kollegen in ihre Atemarbeit mit aufgenommen worden.
Nachfolgend möchte ich kurz einen Einblick geben über meine langjährigen persönlichen und therapeutischen Erfahrungen auf diesem Weg der integrativen und sich ergänzenden Verfahrensweisen.
Ausgebildet in der Methode Ilse Middendorf- in den 1980iger Jahren, lernte ich Anfang der 1990iger Jahre die „Veenig-Atemarbeit" bei Ingeborg Werckmeister kennen.
Viele Jahre hindurch lernte ich bei ihr die vegetativ ordnende Atemarbeit kennen. Durch Inges einladende und begleitende Führung und das „Dranbleiben" bei den Übungen, erlebte ich eine innere Orientierung, einen feindosierten und strukturgebenden Atemaufbau und die Verbindungen in den Atem-Körper-Räumen. Diese „Lehrjahre" mit Wurzelkontakt und strukturgebender Aufrichtung, vielen Gesprächen und Reflexionen waren für mich sehr heilsam und wertvoll.

Anfang der 2000er Jahre in meiner Ausbildung zur Traumatherapeutin - Somatic Experiencing- und vielen anschließenden
Fortbildungen in pränataler und perinataler Traumatisierung, Entwicklungstraumatisierung und starken Schock-Traumatisierungen wurden mir die Verbindungen und Auswirkungen der „Veening-Atemarbeit", wie ich sie bei Inge Werckmeister und Bettina von Waldhausen erfahren habe, noch einmal sehr deutlich.
Die differenzierten heutigen Erkenntnissen des dreieinigen Gehirns und die Zusammenhänge der Polyvagalen Theorie nach Stephen Porges gaben mir hierbei nochmals wertvolle theoretische Einblicke in diese Gesamtzusammenhänge.
Da die Polyvagale Therapie zur Zeit in vieler „körperpsychotherapeutischen Munde" ist, möchte ich sie hier kurz vorstellen:

Die herkömmliche Sichtweise des autonomen Nervensystems geht von der
Unterteilung in sympathisches und parasympathisches Nervensystem aus.
Diese beiden Systeme regulieren sich gegenseitig als Antagonisten.
Stephen Porges hat nun in seinen Forschungen das autonome Nervensystem nicht nur in zwei sondern in drei Zweige aufgeteilt.

1. Der Sympathikus, der für unsere Mobilisation zuständig ist und besonders als Motivations- und Resonanzsystem gilt. Hier kommen Orientierung, Bewegung, Spielen, Neugier, Spaß an der Welt, Achtsamkeit bis hin zu hoher Wachsamkeit und bei Gefahr Flucht- und Kampfreaktionen zum Ausdruck.
Das sympathische Nervensystem gehört zum limbischen System
(mittleres Gehirn). Wenn es durch Stressfaktoren stark aktiviert wird, kommt es zu einer hohen Erregung in allen Organsystemen und zu einer hohen emotionalen Ladung.
Der Neocortex ,der stammesgeschichtlich jüngere Teil des Gehirns wird dabei vom limbischen System ausgeschaltet und die Fähigkeit zu vorausschauendem Denken, Reflexion, sozialer Kommunikation und Mitgefühl ist nur noch eingeschränkt möglich.
Der Sympathikus ist myelinisiert (ummantelt), was sehr schnelle
Reaktionen hervorruft.

2. Der Parasympathikus, der als Ruhe-Nerv bekannt ist und dem Nervus Vagus zugeordnet wird.
Er wird nach Stephen Porges differenziert in einen dorsalen (rückseitigen) und ventralen (bauchseitigen) Vaguszweig (10. Hirnnerv).
Beide Teile entspringen unterschiedlichen Bereichen des Hirnstamms
und haben unterschiedliche Funktionen inne.
Der dorsale Vagus, auch vegetativer Vagus genannt, ist evolutionsgeschichtlich das älteste System des autonomen Nervensystems, innerviert die Bauch- und Beckenhöhle und ist zuständig für die Organsysteme unterhalb des Zwerchfells. Er hält unter normalen Bedingungen den Tonus des Darms aufrecht und fördert die Verdauungsprozesse. Ebenso innerviert der dorsale Vagus das Herz und die Atmung.
Seine Basisfunktionen sind: Atmen, Wachen, Schlafen, Lebensrhythmen und die Immunfunktionen.
Er hat seinen Ursprung im motorischen Nucleus des Hirnstamms. Seine Nervenfasern sind nicht myelinisiert (ummantelt) und daher ist seine Reaktion sehr langsam.
Hier ist ein Urmechanismus tätig, der bei großer Lebensgefahr alle
unteren Organsysteme auf einen Minimalbetrieb schaltet.

Bei frühen und/ oder langanhaltenden Entwicklungstraumatisierungen und bei starken Schock-Traumata hat das autonome Nervensystem nur noch die eine Möglichkeit, den dorsalen Vagus ganz runterzufahren und in Erstarrung und Immobilisation - als ältesten Schutzmechanismus unserer Spezies- zu verharren.
Die Folge des Abschaltens ist eine verminderte bis eingestellte Stoffwechseltätigkeit , die Atmung ist kaum noch wahrnehmbar, die Herzfrequenz und der Blutdruck sinken drastisch ab. Das bedeutet, dass
alle Vitalfunktionen herunter gefahren werden, um den Energieverbrauch so stark wie möglich zu reduzieren.
Es werden Sprachlosigkeit, Taubheit, Dissoziation, Ohnmacht, Hilflosigkeit, passives Vermeidungsverhalten, das Gefühl im Körper eingeschlossen zu sein und Entfremdung erfahren.
Wenn diese Zustände lange anhalten und im Nervensystem aufrechterhalten bleiben, bleibt auch der sympathische Stress, durch nicht erfolgte Kampf- und Fluchtreaktion, unter dem erstarrten Zustand erhalten.
Das heißt, der Mensch wirkt nach außen passiv, erschöpft, energielos aber unten drunter brodelt still vor sich hin der Vulkan.
Dieser Kampf zwischen dorsalem Vagus und Sympathikus kann zu den vielfältigsten psychosomatischen Störungen und Erkrankungen führen, die keine ersichtlichen Ursachen zu haben scheinen.

Der Erstarrungsreflex ist das unflexibelste und letzte Mittel des Selbstschutzes vor dem Tod.

Der ventrale Vagus ist ein gesonderter Nervenkreislauf, der unser soziales Verhalten reguliert. Er wird auch „kluger Vagus" genannt.
Er ist myelinisiert, das heißt ummantelt von eine fetthaltigen Schicht, welche eine schnellere Leitung der Nervenimpulse ermöglicht. Er entspringt dem Nucleus Ambiguus, einem besonderen Nervenknoten, der mit Saugen, Atmen, Stimmgebung, Gesichtsausdruck, Augenbewegungen, Hören zu tun hat und die Verbindung zu Kontakt und Nähe herstellt. Dieser Vaguszweig ist also mit all den Organen verbunden, die an sozialer Interaktion teilhaben. Alle Orientierungsreaktionen des Kopfbereiches kommen hier zur Wirkung. Er fördert ebenso ruhige Verhaltenszustände, in dem er den Einfluss des sympathischen Nervensystems bei Stress auf das Herz hemmt (sogenannte Vagusbremse).
Bei Traumatisierungen in der Lebensgeschichte, die oftmals auch ihren Ursprung in frühen Entwicklungstraumata und/ oder in vorgeburtlichen und geburtlichen Traumatisierungen haben können, geht es ganz besonders darum, eine intensive Aktivierung des sozialen Vagus zu unterstützen, um aus der schutzlosen Immobilisation heraus zu kommen.

Die Verbindung zu den oft nicht gut entwickelten oder blockierten überlebensnotwendigen Flucht- und Kampfreflexen gilt es aufzubauen und gleichzeitig den sympathischen Tonus so zu dämpfen, dass die Flucht- und Kampfreaktionen in Zustände liebevoller und gehaltener Mobilisation geführt werden können.
Da das Gefühl der Sicherheit eine so bedeutende und notwendige Vorbedingung für das Anspringen des sozialen Nervensystems ist, muss
bei tiefen traumatischen Erfahrungen zuallererst daran gearbeitet werden, dass die Fähigkeit zum Kontakt möglich wird und aufrechterhalten bleiben kann.
Stephen Porges hat aufgezeigt, wie dynamisch unsere biologischen Systeme sind, wie zum Beispiel ein freundlicher Gesichtsausdruck oder der beruhigende Klang einer Stimme die gesamte Organisation eines menschlichen Organismus verändern kann. Wie das Gefühl, „gesehen und verstanden" zu werden, zur Befreiung der desorganisierten und angstbesetzten Zustände beiträgt. Der soziale Kontakt, die Einstimmung und das Vertrauen ist ferner die Voraussetzung dafür, dass das limbische System sich öffnen und damit zu einer Resonanzfähigkeit, zu den Gefühlen und zur Öffnung des Herzens führen kann.
Dieser soziale Kontakt muss bei tiefen Regulationsprozessen von beiden Seiten
( Therapeutin/ Klientin) gehalten werden, ansonsten hat es fatale Folgen und die Beziehung kann auf lange Sicht nicht wieder hergestellt werden.
Denn nur die gefühlte Sicherheit als ressourcenreicher Zustand im Körper, erlaubt auf kontrollierte Weise die Kontrolle aufzugeben.

Hier kam für mich noch einmal in den letzten Jahren bedeutend die Arbeit des Lichtenberger Instituts für angewandte Stimmphysiologie zur Wirkung, das über Jahrzehnte besonders an diesem ventro-vagalen Zweig des parasympathischen Nervensystem auf höchst differenzierte Weise geforscht hat.
Die Erkundung des ganzen Kopf- und Gesichtsbereiches haben enorme Auswirkungen auf unser Gesamt-Körpersystem.
Eine sinnvolle und wirksame Behandlung des Gesichts, besonders auch über den Ohr-Kehlkopfkreislauf verbindet die Gehirnstrukturen und die Bauchorganen und damit das ventrale und dorsale parasympathische Nervensystem.
Wenn der Druck vom Kehlkopf genommen wird, können über die freie Atmung und Resonanz die inneren Organe aus ihrem Kerker und Einengung befreit werden. Hier zeigt sich, wie eine Regulation von oben nach unten gerade auch für Menschen mit traumatischen Erfahrungen eine Bereicherung ist und große Wirkung zeigt.

Wenn beide parasympathischen Regulationszweige aufeinander wirken und Resonanz als tragende Form erfahren wird, können Heilungsprozesse erfahren werden, wo Therapeutin und Klientin gemeinsam in staunender Anwesenheit erleben, welche Ressourcen und kraftvollen Anteile im Menschen vorhanden sind.
Diese Feedbackschleifen zwischen Eingeweiden und höheren Gehirnstrukturen geben dann große Sicherheit in Bezug auf unsere Bauchgefühle und unser intuitives und instinktives Wissen.

Cornelius Veening, der ja auch Sänger war, hatte diese Zusammenhänge der Regulationswege im autonomen Nervensystem zu seiner Zeit lange erfasst, bevor die Wissenschaft durch ihre „Errungenschaften und Forschungen" dieses heute belegt.
Schade nur, dass es bis jetzt in der Welt so wenig bis gar nicht bekannt ist, dass es diese leibliche Forschungsarbeit schon so lange gibt.

Für mich waren meine Erfahrungen auf diesen Wegen und die innere Führung, die mich geleitet hat sehr „ein-leuchtend". Die unterschiedlichen Ansätze und Herangehensweisen empfand ich verbindend, spannend, wohltuend und bereichernd. Sie bieten mir ein gutes Fundament, Menschen auch in tiefen Prozessen auf leichte und möglichst auch humorvolle Weise zu begleiten.

Weiterführende Literatur:
Die Polyvagale Theorie von Stephen Porges
Der Körper kennt den Weg Johannes B. Schmidt
Sprache ohne Worte Peter Levine
Entwicklungstrauma heilen Laurence Heller/ LapierreInhalte folgen